93. Spielminute: Der Schiedsrichter schaut auf die Uhr, bereit zum Abpfiff. Es steht 2:2. Deine Mannschaft ist im Ballbesitz, kontert über die rechte Außenbahn. Du stehst auf der Tribüne, deine Muskeln verkrampfen, dein Blick ist auf den Ball fokussiert. Und du merkst nicht mal, dass du gerade in deinen Schal beißt. Die Flanke wird in den Strafraum geschlagen, du hälst den Atem an…
…und in deinem Körper ist Feueralarm. Die Nebenniere pumpt Adrenalin in dein Blut. Der Anfang einer Kettenreaktion, die die Evolution dir mitgegeben hat. „Fight or flight“ – Kampf oder Flucht: Du stehst unter Stress! Dein Herz erhöht seinen Takt massiv, mit immer mehr Druck presst es immer schneller Blut in deine Muskeln.
Der Selbstversuch
Wir haben uns gefragt: Lässt sich der Verlauf eines Spiels anhand der Herzkurve eines Fußballfans ablesen?
Das Experiment: Wir schauen uns unter Laborbedingungen die Partie Schalke gegen Freiburg an. Einer von uns ist großer Schalke-Fan, dem anderen ist Schalke ziemlich Wurst. Kardiologen vom Herzzentrum der Uniklinik Essen schließen uns an Langzeit-EKG-Geräte an. 48 Stunden vor dem Spiel tragen wir die Dinger permanent, um Referenzwerte zu bekommen. Je fünf Elektroden kleben dauerhaft an unseren Oberkörpern, zeichnen jeden Herzschlag auf. Schöne Nachricht am Rande: Nach dem ersten Testlauf ist klar, dass wir beide kerngesund sind.
Am dritten Tag werden wir neu verkabelt und machen es uns kurz vor Anpfiff vor dem Fernseher gemütlich. Auch diesmal wird jeder unserer Herzschläge aufgezeichnet, über die gesamten 90 Minuten des Fußballspiels. Das Ergebnis hat auch die Klinik-Ärzte überrascht. Was genau passiert ist, zeigt das Video:
Samstagmittag, 13 Uhr, Hauptbahnhof Gelsenkirchen. Wie vor jedem Heimspiel treffen wir uns, trinken noch ein, zwei Bier, fachsimpeln über den Gegner, unsere Mannschaft und das anstehende Spiel. Wir reden aber auch über die zurückliegende Woche, über lange Arbeitstage oder schwere Klausuren. Wir plaudern, scherzen und haben gute Laune. Uns eint die Liebe zu unserem Verein. Wir sind Fans. Aber wie ist es eigentlich dazugekommen, dass durch meine Adern blau-weißes Blut fließt?
Meine Eltern stammen aus der Türkei. Sie haben vor 30 Jahren ihre Heimat verlassen und sich in Deutschland ihr neues Zuhause aufgebaut. Damals interessierten sie sich nicht für Sport. Fußball war für sie nicht mehr als 22 Männer, die einem Ball hinterher rennen. Sich in einem fremden Land und mit einer neuen Sprache zurechtzufinden war spannend, stressig und emotional genug. 1987 wurde ich als erstes von zwei Kindern geboren. Einige meiner Kindergartenfreunde waren in einem Fußballverein angemeldet und das wollte ich natürlich auch. Meine Eltern hatten nichts dagegen einzuwenden. Sie kauften mir Fußballschuhe, kleine Schienbeinschoner und fuhren mich zum ersten Training.
Liebe auf den ersten Schuss
Es war wie Liebe auf den ersten Schuss. Danach wollte ich immer und überall Fußball spielen. Die meisten anderen Kinder trugen beim Training Schalke-Trikots – natürlich wollte ich auch eins haben. Ich ahnte nicht, was sich daraus einmal entwickeln sollte. Zu meinem achten Geburtstag schenkte mein Vater mir meinen ersten Stadionbesuch. Parkstadion. Schalke gegen St. Pauli. Schon nach zwölf Minuten traf Thomas Linke zum 1:0 für Königsblau. Wildfremde Menschen klatschten mich ab und fielen meinem Vater um den Hals. Wir wussten beide nicht so recht, wie uns geschah. Es war ein schönes Gefühl. Wir stiegen in die Fangesänge mit ein. Zumindest versuchten wir es. Es war wohl eher ein „Lalalala-Schaaahaaalke“, angepasst an die Melodie des in der Nordkurve angestimmten Gesangs. Wir kannten die Texte ja nicht. Schalke gewann das Spiel 2:0. Bis zum Anpfiff hatte ich die Liedtexte einiger Fangesänge in mich aufgesaugt.
Ich war begeistert. Ich war infiziert.
Mit den Jahren wurde alles noch viel intensiver. Wir verfolgten als Familie die Spiele unserer Schalker, freuten uns frenetisch über einen Sieg, versauten uns das Wochenende bei einer Niederlage, weinten bei der knapp verpassten Meisterschaft 2001. Ja, jener 19. Mai 2001, an dem für jeden Schalkefan eine Welt zusammenbrach, hat mich verändert. Es war, als habe uns jemand bestohlen. Diese Ohnmacht war allgegenwärtig in der Stadt. Wir waren fassungslos. Wir waren traurig. Wir waren bestürzt, aber eins waren wir nicht: allein!
Eine ganze Stadt hat gemeinsam getrauert. Zusammen feiern verbindet, gemeinsam zu trauern geht noch viel tiefer. Es ist intimer. Ich wurde zum Vollblutfan.
Fortan gab es im Stadion für mich nur noch einen richtigen Ort: die Nordkurve. Steht man erst mal in der Nordkurve, wird man ein Teil von ihr. Und man kommt nie wieder von ihr los. Die Kurve wird ein Teil des Lebens. Das Bier vor dem Spiel am Hauptbahnhof ein wiederkehrendes Ritual. Die Stadionbekanntschaften werden deine Freunde. Und der Verein zu einer alles überdauernden Liebe.
Der rote Schal hat nichts geändert. Auch nicht der Ball mit Geißbock-Aufdruck oder das Kissen mit Köln-Emblem, das man mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hat: Ich bin eben kein Fan, weder vom FC noch von sonst einer Fußballmannschaft. Auch wenn ich jahrelang das Gegenteil behauptet habe: Denn Fan irgendeines Teams musste man ja sein in der Schule. Allein schon, um beim Sammeln und Tauschen von Fußballkarten eine klare Präferenz deutlich machen zu können: Gib mir deinen Illgner, dann kriegst du meinen Salou – und den Herrlich noch obendrauf; die brauch ich nicht, weil Gladbach ja doof ist und Köln ist cool. Nur: So wirklich verstanden hab ich das nicht.
Ich habe einen Kumpel, mit dem ist samstags nichts anzufangen, wenn Saison ist. Einfach so ein Bierchen trinken gehen ist dann nicht. Weil er BVB gucken muss. Wieso opfert er den Samstag für Fußball? Ich weiß es nicht. Warum opfern Millionen von Fußballjüngern jedes freie Wochenende, um im Stadion zu stehen?
Nicht, dass Fußball kein sehenswerter Sport wäre. Ich hab schon richtig spannende Partien gesehen. Ich weiß, dass Fußballschauen wahrer Nervenkrieg sein kann. Aber wieso machen Menschen das, was 22 ihnen völlig fremde Sportler da auf einem Platz treiben, zur höchstpersönlichen Sache Ich verstehe es nicht. Wieso lassen sich Fans allen Ernstes den Tag dadurch versauen, dass elf gut bezahlte Profisportler dieses eine Mal nicht gewonnen haben?
Cobain statt Kohler
Vielleicht bin ich auch deshalb nie Fan geworden, weil mir große Massenbewegungen unbehaglich sind. Diese Energie, die immer da ist, wenn sehr viele Menschen an einem Ort ein Ziel verfolgen, kenne ich weniger aus dem Fußball-Stadion als vielmehr von Rockkonzerten oder Demonstrationen. Sie ist überwältigend – und kann verdammt unheimlich sein.
Es ist auch möglich, dass ich nie Fan geworden bin, weil Mythen manchmal nerven. Spätestens, seit Profispiele mediale Großereignisse und Events sind, ist klar: Spitzenfußball ist schon ganz schön verklärt und ganz schön durchkommerzialisiert. Es reicht nicht mehr, dass Fußball gespielt wird. Jede zweite Partie muss ein Klassiker, eine „Schande von Gijon“ oder ein „ultimatives Derby“ sein.
Und irgendwann wurde die Sache mit den Fußballkarten sowieso uninteressant, wichtig waren jetzt Gitarren. Idole hießen nicht Kohler und Häßler, sondern Cobain und Hendrix.
Dann ist da die andere Seite. In den letzten Wochen habe ich mich mit Fußballfans intensiv über ihre Leidenschaft unterhalten. Mit Frauen, Männern, Handwerkern, Akademikern – was sie alle eint: Sie lieben den Ballsport schlichtweg. Und so unterschiedlich sie sind – in dem, was sie fühlen, wenn ihr Verein spielt, sind sie alle gleich. Wenn auch nur für jeweils 90 Minuten. Aber was schadet schon ein bisschen Pathos, wenn er Menschen zusammenführt, die nichts Schlimmeres im Sinn haben, als die Niederlage der gegnerischen Mannschaft herbeizuwünschen – und den Sieg der eigenen?
Ich bin kein Teil der Fußball-Fankultur. Aber ich habe das Gefühl, dass ich sie allmählich verstehe. Und ich finde es schön, dass es euch gibt, liebe Fußball-Fans.